Am 19. Januar 2010 startete ein Regionaljet der amerikanischen Fluggesellschaft PSA in Charleston, West Virginia USA.
Kurz darauf brach die Crew den Start ab und kam nur 54 Meter vor dem Bahnende, kurz vor einem steilen Abhang zum Stehen. Durch sehr viel Glück wurde niemand der 31 Passagiere und 3 Besatzungsmitgliedern verletzt. Am Flugzeug selber entstand nur wenig Sachschaden. Das ursprüngliches Problem war grundsätzlich von technischer Natur, denn es handelte sich um eine falsch gewählte Klappenstellung die den Kapitän zwang, den Start abzubrechen. Tatsächlich lagen die Probleme nach Auswertung des Recorders des Flugzeugs aber weitaus tiefer als vermutet.
Nach Analyse der Stimmenaufzeichnung aus dem Cockpit wurde festgestellt, dass Kapitän und Copilot durchgehend, vom Verlassen der Parkposition bis zum Startlauf, in einer privaten Konversation verstrickt waren, in deren Inhalt es um Sportautos ging. Dabei wurde fälschlicherweise eine andere Klappenstellung als üblich zum Start gewählt. Checklisten wurden während des Rollvorgangs nur oberflächlich gelesen und kein Verfahren wurde korrekt abgearbeitet. Während des Startvorgangs ertönte daraufhin die Warnung, der falschen Klappenstellung und der Kapitän brach im Folgenden den Start ab.
Im Unfallbericht stand dann auch:
„Durch das unprofessionelle Verhalten der Flugbesatzungsmitglieder aufgrund unsachgemäßer Gespräche den Flug und die Passagiere einer derart großen Gefahr auszusetzen, ist grobe Fahrlässigkeit.“
Generell sind uns private Gespräche bei Start oder Landung untersagt, damit wir uns voll und ganz auf unsere Tätigkeiten konzentrieren können. Eine eindeutige Regel und alle Piloten müssen sich daran halten.
Aber ist das in anderen Berufen auch so? Und wie sind die Verfahren in Hochrisikoorganisationen wie beispielsweise in der Medizin, der chemischen Industrie, auf Ölplattformen oder in der Seefahrt?
Können sie sich noch an den Bahnunfall in Bad Aibling im Februar 2016 erinnern? Dort hat ein Fahrdienstleiter seine Pflichten vernachlässigt in dem er noch kurz vor dem Unfall ein Spiel auf seinem Handy gespielt hat. 12 Menschen starben, 89 wurden zum Teil schwer verletzt.
Sterile Cockpit Rule ist der englische Begriff dafür. Nichts soll uns Piloten von unseren Manövern im Cockpit ablenken. Und auch wenn in Ihren Handbüchern oder Zertifizierungen solch eine Regel nicht verankert ist, Sie sollten darüber nachdenken eine zu installieren.
Weil es im Grunde genommen um zwei Dinge geht:
- Wir wollen nicht als Gast, Patient oder Teilnehmer bei einem Unfall oder Vorfall dabei sein, bei der sich die verantwortliche Führungsperson in den wichtigsten Phasen ihrer Tätigkeit nicht zu 100% konzentriert und unser Leben dadurch in Gefahr bringt.
- Können Sie in Zukunft schauen? Nein? Wir auch nicht. Und Chesley Sullenberger, der Held vom Hudson, wusste bei seinem Frühstück noch nicht, dass er später am Nachmittag der Held des Jahrhunderts wird.
Alleine schon deshalb sollten die verantwortliche Person „compliant“, also Regelkonform, konzentriert arbeiten, weil wir nie wissen werden, was uns in den nächsten Stunden oder Tagen ereilen wird.
Solange nichts passiert, ist es schwerlich zu überprüfen, ob jemand ordentlich arbeitet. Es sieht aber anders aus, wenn Untersuchungen aufgrund eines Vorfalles oder gar aufgrund eines Unfalls durchgeführt werden, wie in dem Fall in Charleston, dem Hudson River, in Bad Aibling, oder auch nach dem Absturz der Colgan Air in Buffalo, bei dem sich Kapitän und Copilotin während des Landevorganges im Cockpit munter unterhielten, während das Flugzeug in der Luft Eis ansetzte und durch Übermüdung und falsches Verhalten der Crew später unkontrollierbar am Boden zerschellte.
Ausgehend von dem fundamentalen Grundsatz in Hochrisikounternehmen, dass keiner absichtlich Fehler oder gar einen Regelverstoß begeht, wird jedes Unternehmen trotzdem sein System hinterfragen müssen, ob auch wirklich immer professionell gearbeitet wird. Erschöpfung am Arbeitsplatz, Mobbing und andere Faktoren führen zwangsläufig irgendwann zu einem Unfall.
Unabsichtlich könnte sich ein Unternehmen in eine „Kultur der Gelassenheit“ hineinmanövriert haben. Lange Zeit wurde angenommen, dass wenn jemandem beigebracht wird, etwas richtig zu tun, ihm auch gleichzeitig gelehrt wird etwas Unrichtiges nicht zu tun. Diese irrige Annahme ist grundlegend verantwortlich für menschliche Verluste und Millionen von Sachschäden in den sog. High Risk Industries. Erfahrung, normalerweise ein großartiger Lehrer, lehrt uns heute das Gegenteil. Verfehlungen stellen scheinbar kein Problem dar, denn wir müssen keine Folgen befürchten, solange eben nichts passiert. Ein äußerst falsches, vor allem aber kurzfristiges Denken.
Um so wichtiger ist es, dass Unternehmen, die in einer Hochrisikoumgebung tätig sind, ihre Arbeit täglich auf den Prüfstand stellen um auf einem akzeptablen Sicherheitsniveau zu bleiben und um die Sicherheit in ihrem Berufsfeld aufrecht zu erhalten. Bereits 1986 stellte der Flugzeughersteller Boeing fest, dass bei gleichbleibendem Sicherheitsniveau und prognostiziertem Luftfahrtwachstum sich im Jahr 2000 jede Woche ein medienwirksamer Unfall ereignen wird. Das dies offensichtlich nicht der Fall war lag daran, dass in der Luftfahrt ein enorm großer Aufwand betrieben wird um die Sicherheit der Fluggäste aber auch der eigenen Mitarbeiter zu gewährleisten.
Und die Verpflichtung dazu gilt auch für andere Betriebe in Hochrisikoumgebungen.
Um das Überleben eines Unternehmens und seiner Mitarbeiter sicherzustellen, muss ein Unternehmen an jedem Tag ein kleines bisschen besser sein, als an dem vorhergehenden.
Im Falle der Sterile Cockpit Rule heißt das nicht, dass ich als Pilot während einer dynamischen Situation nichts mehr sagen darf. Im Gegenteil. Aber die Sterile Cockpit Regel kann uns vor Unfällen bewahren und ist Teil des Sicherheitsbewußtseins jedes Einzelnen.
Bedenken Sie, dass jede Störung Ihre Konzentration schwächt. Gerade für Führungspersonen mit professionellem Anspruch gilt deshalb der dazu gehörende Weg der strikten Einhaltung von Regeltreue. Jeder Untergebene unterliegt einem „normativen Einfluss“ durch die Führungsperson. Meinungen und Handlungen des Mächtigeren werden, teils unbewusst, übernommen und ungenügend reflektiert. Laxe Handhabung von Compliance gilt oft als Zeichen bewundernswerten Expertentums, ist jedoch ein Zeichen von Nachlässigkeit und gefährlich. Dazu gehören auch private Gespräche, wenn sie nicht angebracht sind. Eine große internationale Airline fand im Rahmen einer Studie heraus, dass 80% aller Vorfälle durch schlichtes Halten an Compliance hätten verhindert werden können.
Das Problem des menschlichen Versagens wird nicht nur durch Human Factor Training oder ein Sicherheits Audit Programm gelöst. Diese Programme sind wichtige Hilfsmittel und Auffanglinien, aber Compliance ist weder eine Tugend, noch eine Kultur oder nur der Zufall einer langen Zeit, in der ein Unternehmen keinen Vorfall hatte. Compliance ist eine gelernte Disziplin und die Kernkompetenz einer Führungskraft, gerade in einem Hochrisikoberuf.
Übrigens, der Fahrdienstleiter, der für den Unfall von Bad Aibling verantwortlich war, wurde zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Er wusste beim Aufstehen auch noch nicht, dass er in den folgenden Stunden eines der größten Desaster in der Geschichte der Deutschen Bahn zu verantworten hat.
Wir sollten also Compliance zu unserer Grundregel machen. Jeden Tag. Bevor die Anwälte uns besuchen.